Milchproduktion: „Das Schweigen der Kälber“

Wenn man sich mit der Geschichte der Industrialisierung beschäftigt, haben sich Arbeiterbewegungen sehr viel Dankbarkeit verdient, indem sie gegen Ausbeutung und für eine gewisse Fairness gekämpft haben. Heute halten wir gute Arbeitsbedingungen für selbstverständlich. Anders bei den Tieren. Sie hatten lange keine Lobby, lange wäre niemand auf die Idee gekommen für ihre Rechte auf die Straße zu gehen. Deswegen konnten sich Systeme entwickeln, die sich bereits über Jahrzehnte so etabliert haben, dass wir sie als normal und rechtens empfinden.

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„Wenn Du ein Hähnchen für 2,79€ kaufst, weißt Du, wie es gehalten wurde“, diesen Satz prägte der Agrarblogger „Bauer Willi“ vor ein paar Jahren, zu Beginn seiner Karriere. Je mehr ich über die sozialen Medien Aktivisten aus den verschiedenen Bereichen der Landwirtschaft kennenlerne, desto mehr bin ich überrascht, wie sehr in ungefähr allen Sparten der Landwirtschaft Schindluder mit den Tieren getrieben wird. Wir Deutschen geben so wenig Geld fürs Essen aus wie kaum sonst wer. Dass wir das ein klein bisschen auf die Spitze getrieben haben, wissen wir alle. Wir ignorieren den Fakt, dass wir damit konkret für eine Tierhaltung verantwortlich sind, die wir eigentlich verboten wissen wollen. Trotzdem fühlen wir uns über den Tisch gezogen, wenn wir im Laden stehen und für ein Bio-Steak mehr zahlen sollen als für ein konventionelles. Besonders krass finde ich es bei ultra-Massenprodukten wie Schweine- und Geflügelfleisch. Statt, dass uns der Preisuntscheid zwischen bio und konventionell zu denken geben würde (von Produkten aus wirklich, wirklich tiergerechter Haltung spreche ich da noch gar nicht mal), glauben wir das System verstanden zu haben und sagen „bio ist zu teuer“.

Bio zu teuer? Bio boomt.

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Biomilch boomt. Bio-Eier boomen auch. Beide Produktgruppen werden aber inzwischen oft auf eine Art und Weise „ökologisch“ produziert, die ein Laie nicht mehr als ökologisch erkennen würde. Sicher, sie erfüllen die Produktionsvorschriften der Bio-Verbände, die Philosophie dahinter sucht man auf solchen Betrieben allerdings oft vergeblich. Schaut man sich Biobetriebe an, wird der größte Teil das Image erfüllen: kleine Herden, viel Auslauf, extensive Fütterung. Würde man sich die Kühe anschauen, die die Bio-Milch im Supermarkt produzieren, würden die wenigsten auf solchen Betrieben stehen. Mit Platzhalterzahlen in ein Bild gebracht, das der angedeuteten Kapitalismuskritik vom Beginn entspricht: „10% der Betriebe halten 90% der Hühner, 90% der Hühner stehen auf 10% der Betriebe“ und Kühe und sonstwas..
Es gibt auf der Demeter-Homepage eine Aufdröselung der Bestandsgrößen von 2011. Inzwischen wird sich das sicher wieder etwas verändert haben, damals hatten aber 377 von 404 demeter-Hühnerbetrieben weniger als 500 Tiere, 332 davon sogar unter 100. Die meisten Tiere leben aber in Haltungen mit über 1000 Tieren. Das sind die Tiere, deren Eier man im Supermarkt kaufen kann. Eier von 300 Tieren gehen in der Regel über einen Hofladen weg, maximal noch einen zusätzlichen Bioladen. Die Aufteilung Verteilung von groß und klein wird in anderen Verbänden und bei anderen Tierarten auch nicht anders sein.

Was hat das aber alles mit den Kälbern zu tun? Wir tun für unseren Milchkonsum den Kälbern einiges an. Sie müssen geboren werden, damit fängt es an: Die Kühe würden sonst die Milchproduktion einstellen. Nach zwei Wochen werden die meisten Kälber für einen Spottpreis an Viehhändler gegeben, die sie dann weiter an Kälbermäster in Holland, Frankreich oder Italien verkaufen (in Deutschland gibt es natürlich auch welche, wahrscheinlich sind allerdings die Tierschutzbestimmungen bei uns zu streng, als dass man das wirklich lohnenswert machen könnte. Deswegen geht’s über die Grenze). Auch in der ökologischen Landwirtschaft ist das Gang und Gäbe.
Insgesamt wirtschafteten, dem „Elite-Magazin“ nach, 2016 knapp 4100 Milchviehbetriebe zumindest nach EU-Bio-Standard, dürfen also „Bio-Milch“ abliefern. Dem Portal „KUH+DU“ nach, arbeiten nur knapp 50 Betriebe in Deutschland wirklich „konsequent alternativ“ (meine Formulierung, nicht die von KUH+DU) – trennen die Kälber also nicht nach der Geburt von den Müttern, sondern lassen sie für eine drei bis viermonatige Säugezeit zusammen und melken die Mütter parallel.

Kehren vor der eigenen Haustür

Wir bei uns wirtschaften nach der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise, sind also durch den Verband Demeter e.V. anerkannt. Dort gibt es die schärfsten Richtlinien aller Verbände. Trotzdem ist es bei uns aktuell so, dass wir unsere Kälber am ersten Tag von der Mutter trennen (dann ist der Trennungsschmerz am geringsten) und die Bullenkälber nach zwei Wochen an den Viehhändler geben. Früher ist es nicht erlaubt. Wir geben sie für einen Spottpreis ab, der nicht mal im Ansatz den Kosten für die Milch entspricht, die wir in den zwei Wochen in die Kälber gesteckt haben. Es ist aber günstiger für uns, als wenn wir die Tiere mit der teuren Milch weiter aufziehen würden. Für mich ist eine muttergebundene Kälberaufzucht auf Dauer alternativlos. Ich habe darüber mal einen Podcast gemacht, da kann man meine Gründe nachhören. (Es ist übrigens nicht die Trennung von der Mutter, die mich am stärksten zur muttergebundenen Aufzucht zieht: der Trennungsschmerz ist nach drei oder vier Monaten für Kuh und Kalb viel krasser als nach einem Tag).

Das wir unseren Hof so umstrukturieren, dass wir eine muttergebundene Aufzucht realisieren können, ist für mich persönlich eine der Bedingungen, Milchkühe in Zukunft überhaupt noch zu halten. Allerdings braucht das Zeit (auch hier wieder, hört gerne den Podcast, dort habe ich das Thema in der Tiefe behandelt).

Was für mich bei uns noch vor einer muttergebundenen Aufzucht kommen muss, ist ein tierwürdiger und konsequent-ganzheitlicher Umgang mit den Bullenkälbern. Es gibt zwar mehr Betriebe in Deutschland die die Bullenkälber aufziehen, als es Betriebe gibt, die muttergebundene Kälberhaltung betreiben; der Biobereich aber, wo der Milchpreis höher ist und Milchaustauscher zur kostengünstigen Aufzucht verboten, wird sich dort nicht positiv hervortun, vermute ich mal ganz stark. Klartext: obwohl es ziemlich „bio“ wäre, Bullenkälber aufzuziehen, ist der Anteil von Biobauern die es tun, wahrscheinlich genau so gering wie unter den konventionellen Kollegen. Biomilch, die im Discounter 1,08 Euro pro Liter kostet, oder 1,35 Euro im Supermarkt, unterstützt zwar schon viel gutes, was extensivere Landbewirtschaftung ohne Chemikalieneinsatz, mehr Heu und weniger Mais in der Ration der Kühe angeht. Es stehen in aller Regel aber die selben Zuchtlinien im Stall, die mit ansonsten ähnlichen Futterrationen gefüttert werden, enthornt werden (bei Demeter nicht) und deren Bullenkälber in die konventionelle Kälbermast gehen. Ohne diese „Müllklappe“ für die Bullenkälber im System wäre Biomilch nochmal teurer.

Was hat man gegen Kälbermast? 

Der Bio-Anteil der Betriebe in Deutschland wächst, die 4100 Betriebe von 2016 sind also wahrscheinlich nicht mehr aktuell. Einen ökologischen Kälbermarkt gibt es allerdings nach wie vor nicht. Das heißt, die Kälber gehen alle konventionell weg (alternative Fakten bitte gerne als Kommentar). Bio-Rindfleisch kommt in der Regel von Herden, die für die Fleischproduktion gehalten werden, nicht von den Brüdern der Milchkühe. Die Milchmästerin aus der folgend eingebundenen Doku führt einen Vorzeigebetrieb. Sie würde sonst das Fernsehteam nicht filmen lassen. In den anderen Betrieben sieht es wahrscheinlich etwas anders aus, genau so in den Betrieben außerhalb Deutschlands. Kalbfleisch ist etwas, dass ich persönlich nicht essen möchte. Warum? Schaut einfach in die Doku.

https://www.youtube.com/watch?v=zxcm8BMT7nY&t=2153s

Aber was kann man tun?

Ich verliere bei dem Thema ein bisschen die Geduld, muss ich zugeben. Wir betreiben einen kleinen Hof, der einem gemeinnützigen Verein gehört. Wir sind nur Pächter. Durch die Eigentumsstruktur sind große Sprünge nicht möglich, wenig Sicherheiten da, große Investitionen also utopisch. Was wir aufbauen, muss schon immer mehr oder weniger aus dem laufenden Betrieb heraus finanziert werden. Meine Pläne für eine muttergebundene Kälberaufzucht waren also bisher immer süße Träume. Wie gesagt, so richtig geduldig bin ich da aber nicht mehr.
Hätte ich gewusst, dass ich heute an diesem Punkt sein würde, hätte ich mein Hofhuhn-Projekt nicht begonnen. Dann würde dieser Blog wahrscheinlich „Bruderkalb“ heißen und versuchen, über die Lücken im vermeintlich geschlossenen Betriebskreislauf in der ökologischen Milchproduktion aufzuklären. Das Zentrum meiner Bemühungen auf dem Betrieb wird im kommenden Jahr hoffentlich ein anderes sein: die nächsten Wochen werde ich mich damit beschäftigen, was es für Möglichkeiten des Crowdfundings für die nötige betriebliche Infrastruktur für die Aufzucht der Bruderkälber gibt. Das Jahr vielleicht mit einer Umsetzung. Auf Instagram-Posts in den letzten Wochen kam viel Rückmeldung, dass es ein großes Interesse von „normalen Menschen“ gibt, uns mit dem Problem nicht alleine zu lassen (wenn man es – wie ich – zu einem Problem macht und nicht einfach als gottgegeben und marktgewollt akzeptiert).

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Wegas Jüngster. Bis wir dieses Wochenende eine richtige Kälberschwemme hatten, war der Kamerad hier für bestimmt eine Woche unser jüngstes Kalb. Das jüngste Kalb unserer ältesten Kuh. Seine Mutter, Wega ist fast 14 Jahre alt und seit zehneinhalb Jahren eine unserer verlässlichsten Milchkühe. Von ihr hatten wir die Biestmilch aus dem vorletzten Post. Inzwischen merkt man ihr das Alter schon sehr an und sie wird wahrscheinlich nicht mehr sehr lange bei uns in der Herde sein. Von ihr habe ich die ersten Fotos vor vielleicht acht Jahren gemacht, als sich meine Mutter eine ordentliche Kamera gekauft hat. Ich muss mal schauen, ob ich auf einer alten Festplatte eines dieser Fotos finde. Wäre vielleicht ja mal ganz interessant, sich eine #eightyearchallenge einer rotbunten Milchkuh anzuschauen. Darum bin ich um mein Blogprojekt ganz froh: ich mache so viel mehr Fotos von unserem Hof, weil es nicht nur gelegentliches Geknipse ist wenn es schnell ein paar nette Fotos braucht, sondern fast schon eine Art Fotodokumentation, die über Jahre immer mehr an Wert gewinnt. Vielleicht ist es ja so, dass ich in 15 Jahren das Kälberfoto einer unserer Kühe auf einer dann aktuellen Plattform hochlade und dazu schreibe "lustig, wie der Wirbel auf dem Nasenrücken vom ersten Tag an das Gesicht geprägt hat und das immer noch tut.".. Hoffentlich sind wir dann schon lange an dem Punkt, dass wir unsere Bullenkälber nicht mehr im Alter von zwei Wochen verkaufen, sondern zwei oder drei Jahre aufziehen um sie als Mastbullen oder Ochsen vermarkten zu können.

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Konkret jetzt?!

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Wenn es so klappt wie ich es mir erträume, würden gleich auch noch Möglichkeiten für die Umsetzung einer muttergebundenen Kälberaufzucht geschaffen werden. Die Milchviehhaltung per se finde ich nämlich toll: es sind wunderbare, natürliche, hochwertige und gesunde Lebensmittel, die aus Kuhmilch produziert werden können. Und das ohne dass Tiere dafür leiden müssen oder unter den Tisch fallen, wenn man sich ein bisschen bemüht. In dem Fall wird Fleisch dann ein Nebenprodukt, wie es das meiner Meinung nach auch sein sollte. Kein aufwändiges Hauptprodukt, für das ein ganzer Hof betrieben wird. Statt zu fragwürdiger Kälbermast beizutragen könnten wir Bullen oder Ochsen über zweieinhalb, drei Jahre aufziehen und mit dem erzeugten Fleisch in Form von Fleischpaketen die Einlagen der Unterstützer zurückzahlen. Oder bei größeren Einlagen zumindest Zinsen oder Teile des Geldes. Das wäre nicht nur eine tolle Sache für uns als Betrieb, über die wir unserem Ideal eines Betriebskreislaufes wieder einen Schritt näher kommen würden. Es wäre ein Chance für die Tiere, denen wir das Leben bieten könnten, das wir ihnen eigentlich schulden und auch für Menschen, die sich für ein System engagieren möchte, dass die Ausbeutung einzelner Rädchen im Getriebe hinter sich lassen möchte und auf ein Miteinander zwischen Mensch und Tier hinarbeitet.

Mal schauen, was da zustande kommt und wer sich beteiligen wird. Falls es klappt, könnte das eine echte Möglichkeit sein, Gedanken der sozialen Landwirtschaft auch stärker im Tierbereich zu etablieren.